26I06I20 bis 25I07I20   BILDER VOR ORT   Benedikt Terwiel

In doppelter Hinsicht

 

Im Landesamt für Vermessungswesen in Schwerin hörte ich zum ersten Mal von Landvermessungspunkten, die an Findlingen angebracht sind. Es schien mir eine eigene Poesie zu haben, dass die erratischen, steinernen Landmarken der eiszeitlichen Raumordnung zugleich Messmarken einer abstrakten Ingenieurslandschaft sein könnten. Eine Doppelfunktion von konkreter und abstrakter Landschaftsmarke, wobei die physische Schwere und Präsenz des Findlings dem Messpunkt die nötige Stabilität und Präzision verleiht. Trotzdem reproduziert die punktförmige Vermessungsmarke ein völlig gegenteiliges Landschaftsbild als ihr massiger Gegenstück. 

 

Einige Wochen zuvor war es zunächst ein Spiel den Kunstverein aus Koordinatenpunkten, Linien und Flächen virtuell zusammenzubauen, um sich dessen Bild anzueignen, das ich mir ja auf Grund der Corona-Einschränkungen nicht selbst vor Ort machen konnte. Dem Modell dann später aber auch eine Physik zu geben (und jedem Baustein sein spezifisches Materialgewicht zuzuordnen), lag allerdings die Idee zu Grunde, eine zufällige Landschaft für sechs Findlinge zu erzeugen. Als sechs golfballähnliche Sphären fallen sie in gerader Linie auf den Kunstraum, durchschlagen ihn oder werden durch dessen Widerstände abgelenkt bis sie auf dem Boden zur Ruhe kommen und eine zufällige Landschaft zerstreuter Elemente bilden.

 

Erst später wurde mir klar, dass die Animation nicht nur ein digitales Gegenstück zum Kunstverein ist, sondern auch der digitale Widerpart zu einer anderen künstlerischen Arbeit. „Tränen“ heißt der 2015 aufgenommene Film von Michael Sailstorfer, in dem riesige, tränenförmige, blaue Abrissbirnen etwa 9 min. in ein Haus im Spessart einschlagen. Eine Parallele, die man vielleicht hätte korrigieren müssen, wenn es nicht gerade interessant wäre, dass diese Nähe der Arbeit eine inhaltliche Ebene hinzufügt und die Fragen nach der digitalen Reproduzierbarkeit der Welt auch auf die Kunst und ihre aktuelle Tendenz zur online-Präsenz und -Erfahrung ausweiten würde.

 

(Benedikt Terwiel, Berlin 23.06.2020)